postcards from the near future pt.II
oder‚Nur die Hälfte des Gehirnes ist betroffen’
In einigen Erzählsträngen der Schottisch-Gälischen Tradition befand sich der Garten (Eden) in Barvas Moor auf der Insel Lewis in den Äußeren Hebriden. Seitdem hat sich durch Klimawandel die Topographie und das vorherrschende Wetter stark verändert.
Nachdem ein Teil der Inseln über mehrere Jahrhunderte kontinuierlich bewohnt war, setzte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Niedergang ein.
Die Lebensweise auf den Inseln galt als sehr archaisch, da sie größtenteils auf dem Tauschhandel beruhte und die Lebensbedingungen vergleichsweise einfach, wenn nicht primitiv waren. Diese Verhältnisse rückten die Inseln und ihre Bewohner seit dem späten 19. Jahrhundert immer wieder in das Blickfeld von Anthropologen, Soziologen und Sprachwissenschaftlern, die die 'unverfälschte', mittlerweile ausgestorbene Sprache und Lebensweise kennenlernen und dokumentieren wollten. Angeregt durch dabei zustande gekommenen Kontakte verfassten einige Inselbewohner Beschreibungen ihres Lebens.
Rückläufige Fangquoten der Fischer und die Abwanderung der jüngeren Leute führten schliesslich dazu, dass die letzten 22 Einwohner 1953 auf das Festland evakuiert wurden.
Die Lebensbedingungen auf den Inseln wurden seit langem nicht mehr als zivilisationsgerecht betrachtet.
In den 1980er Jahren bewohnte eine Gruppe Aussteiger aus Deutschland, die von Fischfang und Kaninchenjagd lebten, die verlassenen Häuser.
Tag 5
Es hat die ganze Nacht und den ganzen Morgen geregnet. Jetzt, am frühen Nachmittag ist die Luft drückend, ja erstickend. Im Garten ist es schwül und heiß, das Klima ist kaum auszuhalten.
Habe geträumt, ich stünde unter der Gemeinschaftsdusche eines Schwimmbades und könne nur den einen Satz denken: die Suche nach Nahrung erschöpft mich so, daß ich abends zu müde bin, um essen zu können.
Tag 37
Jeden Tag quäle ich mich hoch, mit Rückenschmerzen aus dem klammen Bettzeug in die Kälte. Dann geht die morgendliche Zeit schnell herum mit Feuer machen, den Schnecken und der Arbeit im Garten. Zum Turmbau aber komme ich kaum, zu nichts Produktivem.
Man denkt ja, man könne davon ausgehen, in so einem Garten ließe sich konzentriert arbeiten. Stattdessen tausend Ablenkungen: Angst zu verhungern, Angst zu verdursten, Angst vor großen Tieren und daß plötzlich ein Investor auftaucht, Angst vor den inneren Dämonen, Alpträumen, Todesfällen, Traueranfällen, vor der eigenen Sterblichkeit oder dass alles zu lang dauert. Angst auch, daß man nicht wahrgenommen wird auf so einer Insel, daß man deswegen die Insel auch nicht mehr verlassen kann, so laut man auch schreit und tobt und Anfälle hat und auch nicht, wenn man vernünftig ist und Argumente hat und mit einem großen weißen Segel wedelt oder eines festmacht zwischen zwei Stäuchern, statt es als Hängematte zu benutzen wegen der Rückenschmerzen, die man bekommen hat vom Bücken oder vom Schleppen. Denn dauernd zerrt man was hinter sich her: Schlingpflanzen und Steine, Treibgut, Kulturschrott und Ikeakataloge und wenn man Glück hat, Sachen, die man auch essen kann: Flusskrebse, Muscheln, Seetang in Bündeln, ab und zu ein Kaninchen, selten ein größeres Tier. Das Schleppen und die Angst erschöpft natürlich.
Ich möchte also an meinen Forschungen arbeiten, aber ich bin dauernd müde. Ich versuche mich zu erinnern: im Tagebuch des Robinson, der sich schliesslich in einer grob vergleichbaren Situation befand, muss es eigentlich lange Passagen und Beschreibungen von (geistiger) Leere, grausamer Langeweile und Einsamkeit geben - öde, detailversessene Beschreibungen, schon als Kind gern überlesen, Beschreibungen, die in etwa den phantastischen Landschaftschilderungen Karl Mays entsprechen. So baut Robinson zähe zweiundvierzig Tage an einem Floß oder Bett oder was weiß ich, muss erstmal lernen, einen Baum so zu fällen, dass der nicht auf ihn draufkippt und ihn erschlägt, obwohl er sich das auch wünscht von Zeit zu Zeit - meist jedoch ist Robinson Gott dankbar, dass er da sitzen darf auf seiner Insel und etwas lernt und wenn es das Brotmachen ist. Was mich an den Medienprofessor erinnert, der seinen Jahresurlaub auf der Nachbarinsel verbringt und so gerne Brötchenausfahrer werden möchte in einem zweiten Leben, eine romantische Vorstellung, denn einem, der nur das Brotbacken anlysieren kann, dem kauft kaum einer die harten Brötchen ab. Auch hat der Professor Angst - zu umständlich zu sein für den Brotjob, zu unpünktlich auch und überhaupt: wenn er‘s sich recht überlege, könne er es sich kaum gut vorstellen, nicht mehr über die Bedingungen des Brötchenmachens sprechen zu dürfen, denn das wäre wohl schlecht für die Verkaufszahlen, sondern stattdessen über Benzinpreise, Fussball, oder wie groß das Kind von Soundso geworden sei, zu kommunizieren. Robinson verharrt also demütig auf seiner Insel, was sich, wenn man die Hälfte des Textes überspringt, spannend liest, und der Medienprofessor macht weiter das, was er am besten kann, nämlich Vorträge halten, wenn es sein muss, auch mit Hilfe der EU vor den Bauern der Nachbarinsel.
Der Turmbau, den ich erneut angefangen habe, hätte, soviel ist sicher, Robinson in den Tod getrieben, wäre es das einzige gewesen, was ihm da eingefallen wäre, da auf seiner Insel.
Mir ist es ja auch fast peinlich, das kann man eigentlich wirklich niemandem erzählen, dass das einzige, was man in ziemlicher langer Zeit zustande gebracht hat, ist, sich noch weiter zu isolieren und an einem riesigen Ding rumzubauen, von dem man aus Erfahrung weiß, daß man an ihm scheitern wird. Kann man sich das noch leisten? Wie der Mann, von dem ich mal in einer Zeitung gelesen habe, der mitten auf einer Betoninsel zwischen zwei Autobahnkreuzen getrandet war und der auch erstmal einen Monat lang aus einem Bohémereflex heraus, aus Überzeugung, aus Liebe, von dem Rotwein, den er noch im Kofferraum hatte, lebte und erst, als er diesen Vorrat verbraucht hatte, fing er an, sich Gedanken zu machen, sammelte und aß den Müll, den andere aus dem Fenster schmeissen, bevor er dann anfing, sich selbst aufzuessen. Irgendwas frisst einen immer an.
Zusätzlich habe ich im Garten Tomaten ausgesät, alllerdings werden sie das Klima wohl schwer überleben, sie brauchen mehr Sonne. Vielleicht fressen auch die Schnecken, von denen es hier unzählige gibt, die Pflanzen auf. Ich werde also versuchen, ihnen ein Schneckenparadies zu bauen, eine ‚gated community‘ sozusagen, in der sie sich gerne aufhalten und aus der sie nicht rauswollen, damit sie den Garten und die Tomaten in Ruhe lassen.
Tag 23
Gerade das Tagwerk betrachtet- einige gravierende optische Fehler sind passiert- Mauern direkt am Turm ohne Abstand, blinde Gänge, unerreichbar hohe Fenster, prunkvolle Türen vor einer Mauer, verdrehte Treppen mit Stufen und Geländern nach unten, alles aus Stroh.
Mir ist wieder aufgefallen, dass es bei diesen ganzen Sachen so viel darum geht, dass man keine Angst haben darf.
Alles wird schief und krumpelig, wenn man sich nicht traut...munter drauf los besser, aber wagemutig und man muss vielleicht alles nochmal machen oder mit den Fehlern zurechtkommen. Jede Linie immer eine Entscheidung.
Tag 24
Morgen für Morgen, während ich langsam und noch müde den Berg hochlaufe, schmiede ich Pläne und denke mir Geschichten aus. Mein Kopf ist voll mit Zeug, das organisiert werden will, angeblich, das ist so ein Reflex, wie wenn man sonst in seinen Terminkalender schaut auf seinem Schreibtisch und Häkchen macht oder Sachen durchstreicht auf der Liste, die man jeden Tag erneuert mit den Sachen, die man tun muss, um Brötchen holen zu können beim Brötchenausfahrer.
Den Berg hinunter allerdings renne ich und da wird der Kopf dann auch leer, weil man sich auf Muskeln und Schmerz und Atmung konzentriert.
Hinauf aber denke ich mir Geschichten von Verwandlungen aus:
Daß ich beispielsweise vom Berggang zurückkomme und meine Hütte besetzt ist von meinen Schnecken, die über den Zaun, den ich um ein Stück Land mit Gras, Sand und Wasser gezogen habe und in dem ich sie unter Beobachtung halte, sie studiere, geklettert oder gekrochen sind und die es sich jetzt auf meinem Tisch, auf meinem Stuhl und in meinem Bett gemütlich machen.
Ich denke mir Geschichten aus von Künstlern, die sich als Hausbesetzer ausgeben, um in dem Haus, in dem sie auf jeden Fall schon wohnen, das sie aber nicht verantworten wollen, überhaupt noch etwas machen zu können - einfache, simple Bewegungen, vielleicht auch einfach nichts - dann aber wenigstens aus eigener Entscheidung, aus Faulheit vielleicht, auch aus Schläfrigkeit oder einfach wegen der Wasseradern unter dem Haus, die alle Energien in Altersheimbewohner umwandeln.
In der Geschichte, die aus vielen Einzelgeschichten zusammen sich fügt, gibt es Bauwagenbewohner, ebenfalls in Innenstadtnähe, ebenfalls in etwas fast Denkmalgeschützten, die behaupten, sie seien Künstler, und die Platz haben wollen oder brauchen, um Künstler zu werden, weil das besser ist, als Bauwagenbewohner zu bleiben. Und Künstler, die Bauwagenbewohner werden, wegen einer verschüttetem Erinnerung an Rebellion, an Avantgardetradition, vielleicht auch aus persönlichen Gründen, und Bauwagenbewohner, die Baumarktbesitzer werden und Werbegrafiker, die Hausbootbewohner werden in der Hafencity und Besetzer, die Werbegrafiker werden, weil sie eine Menge Praxis im Plakate machen haben und Künstler, die bekannte Künstler werden wollen und bekannte Künstler, die für immer Besetzer bleiben wollen, warum Letzteres, ist unbekannt. Und es gibt Künstler oder Besetzer oder Leute ohne Bezeichnungen, die auf einem Bauwagenplatz wohnen, den sie als Garten bezeichnen, aus ästhetischen oder strategischen Gründen und die aus der Bedrohung, den Garten verlassen zu müssen, ein Buch machen, das von denselben Leuten finanziert wird, die sie aus dem Garten vertreiben, vielleicht, weil sie Äpfel gegessen haben, eher aber, weil der Garten zum Strand werden soll oder zur Betoninsel. Jedenfalls ist ein Buch machen zu dürfen, weil man es machen darf, statt einfach Äpfel zu essen, oder Äpfel einfach auch nicht zu essen, letzendlich Selbstverletzung- ebenso wie auch das Essen der Äpfel und die Verweigerung des Äpfelessens Selbstverletzung ist. Vom Äpfelessen wird man träge und dumm und vom Nicht-Essen wird man hungrig, schwach und verbittert. Man hat also so oder so Schmerzen.
Man kann auch versuchen, sich rauszunehmen und mit den Äpfeln einfach nichts zu tun, aber dann fallen sie runter vom Baum und werden gammlig und matschig mit Wespen dran, in die man tritt, was auch keinen Spaß macht, sondern weh tut. Man hüpft in seinem eigenen Vorgarten dämlich auf einem Bein rum. Das Alles ist immerzu Performance.
Es sollte aber doch eigentlich darum gehen, als Wunsch und Begehren, als Motor und als Freude, einen Ort zu haben, an dem Wirklichkeit anders vorkommt. Eine Utopie von Wirklichkeit.
In der Wirklichkeit aber, in der Schnittmenge und Zuschauermenge gibt es eine menge Leute, die gar nichts wollen oder ihre Ruhe oder Angst haben vor irgendetwas, was nirgendwo niedergeschrieben ist, aber in der Regel als Versagen bezeichnet wird oder dass man zu alt ist oder dass man es nicht geschafft hat. Nicht zu vergessen die Einsamkeit.
Ich denke mir also Geschichten aus, ich stelle Behauptungen auf. Und baue an meinem Turm. Es gibt hier ja nichts, weder Äpfel, noch einen Ort, wo man Veranstaltungen machen könnte, etwa ein hübsches Café mit Biergarten, um Geschichte sich erzählen zu können, über die man sich streiten kann, um Filme zu zeigen. Diese Orte werden unterschätzt, wie wichtig die sind.
Tag 26
Tagelang spreche ich nicht, ich habe keinen Kontakt, es macht mir nichts aus, es ist nur so, dass ich manchmal denke, ich bin in mir selbst eingesperrt. Daß es wichtig wäre zu sprechen, aus Vernunft.
Tag 36
Traum mit Brian Eno, der mir verbietet, in seinem avangardistischen Noisechor, in dem alle nur Geräusche von sich geben oder flächige Obertöne, zu singen. Ich könne mich nicht anpassen und die hohen Töne, die ich von mir gebe, würden zu sehr herausstechen. War am Boden zerstört. Ich war der Überzeugung,
perfekt in den Chor zu passen, endlich einen Ort gefunden zu haben, Ort der Ruhe. Eine Orgelpfeife zu sein. Ich nehme einen Bus von irgenwoher irgendwohin. Er ist voll Jugendlicher, vielleicht Abiturienten auf Studienreise. Ich tausche lange, tiefe blicke mit einem südländisch aussehendem, dackeläugigen Jungen mit honigblonden Haaren aus, dem ich kurz darauf auf die Bustoilette im Stockwerk tiefer folge. Diese ist die riesige, verchromte und nur durch ein Drehkreuz, das 50ct kostet, zu betretende, öffentliche Toilette des Hamburger ZOB, vollgestopft mit tropischen Planzen aus Plastik, in deren Ranken ich mich verheddere. Ich strample immer fester, stricke mich immer mehr ein, Ranken bis zum Hals, komme nicht weg. Traurig schaue ich dem Jungen hinterher, der um die Ecke verschwindet, wie das weiße Kaninchen.
Tag 103
Angeblich hat der Mensch ein solches Bedürfnis, vom Paradies zu träumen, daß er sich weigert, das Nichtparadiesische an der Insel zu sehen.
Die Wochen hier, in denen sich mein Leben ausschließlich auf nachbarliche Beziehungen beschränkt, beweisen mir jedoch, daß Natur, Frieden und Routine nicht genug sind.
Allerdings verschafft mir die Natur tatsächlich Ruhe, wenn sie mich nicht gerade zur Bewunderung zwingt oder mich durch den andauernden Regen ohne Sonnenschein zu zermürben versucht. Ich steige jeden morgen auf den nächsten Hügelberg, ich steige hoch, denke mir Sachen aus, ich untersuche das Persönliche. Im Persönlichen besteht Hoffnung, einen Grund für eine Handlung zu entdecken, in der Geschichte nie. Die Geschichte lügt. Sie wird von Menschen mit persönlichen Vorurteilen ihrer persönlichen Vorteile zuliebe geschrieben, die niemals kontextlos sind.
Tag 44
‚Robinson filmt sich selbst. Er ist ein exilierter Künstler aus einem Land im Nahen Osten, zwischen Euphrat und Tigris, und es ist nicht das erste Mal, daß er diese Performance macht, spricht er in die Kamera. Und daß er sein Video schon an verschiedenen Kunstorten performt hat, live oder auch von Anfang an als Video.
Robinson spricht in diesem seinem Video über ein anderes Video - ein Video, das Bekannte von Robinson in einem Schrank im Lagerraum eines Gemüsegroßhandels in einem Land im Nahen Osten, zwischen Euphrat und Tigris, gefunden haben.
Robinson spricht in seiner Performance über das Performancevideo eines anderen. Dieser ist nicht Künstler, sondern Selbstmordattentäter. Der Attentäter, der sich Eva nennt, filmt sich, um eine letzte Botschaft zu verfassen. Diese Videobotschaft soll nach dem Attentat, also nach Evas Tod, von allen wichtigen Fernsehsendern ausgestrahlt werden.
Bemerkenswert ist, daß sich auf der im einem Schrank des Gemüsegroßhandels gefundenen VHS Kassette nicht nur eine Version dieser letzen Botschaft, des Bekennervideos, befindet, sondern mehrere. Die Versionen weichen allerdings kaum voneinander ab. Eva hat sein Abschiednehmen geprobt.’
Dies sei nicht weiter verwunderlich, aber Teil eines Phänomens, über das er gerne sprechen möchte in seinem heutigen Vortrag, meint der Medienprofessor. Der Professor zeigt das Video im Video als Teil seines Vortrages im Rahmen des Begleitprogramms einer Ausstellung mit dem Titel ‚Medium Religion‘, mit Fördergeldern importiert hierher, er selbst ist der Kurator.
Die Wanderausstellung kostet also hier an diesem Ort keinen Eintritt. Auch alle Begleitveranstaltungen, auch der Vortrag, können umsonst besucht werden.
‚Der Attentäter Eva stellt mehrmals, also wiederholt, ein Abschiedsvideo her. Er probt seine Gesten und Worte, die von der Öffentlichkeit, deren Aufmerksamkeit er durch die Ausführung des Attentates erhofft und vermutlich auch erzwingen kann, als seine letzten wahrgenommen werden. Diese Wiederholung ist das Bemerkenswerte. Der Attentäter hätte ganz offensichtlich nichts proben müssen, die Videos unterscheiden sich nur minimal. Er macht keine wahrnehmbaren Fehler. Dennoch muss er wiederholen. Er weiss: das Wesen des Videos ist die Möglichkeit der Reproduktion, der Vervielfältigung, der Wiederholung. Evas letzte und vielleicht einzige Performance wird unendlich vervielfältigt und wiederholt werden. Bis in alle Ewigkeit. Er probt sein Unsterblichwerden. Er muss ganz sicher sein, dass jede Geste sitzt. Durch die Wiederholung wird Evas Handlung zum Ritual. Er selbst glaubt offensichtlich nicht ganz, was das Video schon weiß, weil dieses Wissen in es eingeschrieben ist, daß seine Botschaft ihn allein durch die Wahl des Mediums unsterblich werden lässt. Völlig egal, was Eva tut, ein Bild von ihm wird immer dableiben. Seine Handlung, seine Botschaft im Video ist austauschbar- Hauptsache, Eva sprengt sich in die Luft. Eva jedoch zweifelt und wiederholt.
Das Wiederholen ist ein Merkmal des Fundamentalismus. Wiederholen, um Festzuschreiben. Wiederholen, um die Handlung zum Ritual werden zu lassen. Um nicht mehr zweifeln zu müssen, nicht hinterfragen zu müssen, nicht rumstochern zu müssen in irgendwelchen Wunden, um sich ausruhen zu können meinetwegen und den Kopf frei zu haben oder kopflos zu werden im wahrsten Sinne des Wortes und nicht im Sinne des Forschens, wenn der Kopf nur noch etwas blutig Zerfetztes ist.’
Tag 37
Ich frage den Medienprofessor nach seiner Meinung: Die Wiederholung könne man doch ebenso als Methode einsetzen, nicht, um etwas festzuschreiben, sondern im Gegenteil, um eine Öffnung zu erzielen. Die exakte Wiederholung sei schließlich unmöglich, es finde immer eine Verschiebung statt. Er selbst habe schließlich behauptet, es gebe kein Originalmaterial.
Der Professor antwortet, ob Wiederholung etwas verfestige oder festschreibe, oder aber eine Öffnung erziele, sei eine Frage der Betrachtungsweise. Zwei Seiten einer Medaille- eine Glaubensfrage.
Der Fundamentalist hat demnach keine Möglichkeit, seine eigene Methodik zu betrachten und Widersprüchlichkeiten zu erkennen, ebensowenig wie der Verfechter von Produktions- und Wahrnehmungsmodellen, die sich den nach wie vor gängigen Zweigeteiltheiten von Identität und Differenz, Subjekt und System, von Original und Kopie zu entziehen suchen.
Tag 48
Die Schnecken sehen sich sehr ähnlich, sind fast identisch.
Ich habe sie Adam und Robinson genannt.
Adam und Robinson wissen nichts von Differenz.
Ich versuche ihnen ihre Namen einzuprägen. Ich scheitere vom einen zum anderen mal. Vernünftiges zureden, Strenge, Beharrlichkeit: Alles ist umsonst.
Tag 83
Der Schüler Adam ist ein Lebewesen; Lebewesen können sich bewegen oder ruhig verhalten, hieraus folgt mit Notwendigkeit, dass Adam sich entweder ruhig verhalten kann oder sich bewegt; aber es ist nicht notwendig, dass er sich ruhig verhält.
Weitere Behauptung: Der Schüler Adam ist wissbegierig. Hieraus folgt mit Notwendigkeit, daß er Unruhe verbreitet. Nicht nur kann er nicht still herumsitzen, sondern wird, weil er Fragen stellt- was ja seiner Aufgabe und seinem Wesen als Schüler entspricht- auch unbequem in einem unkörperlichen Sinne.
Adam stellt fest, daß ‚Schwierigkeiten machen‘ als etwas gilt, das man auf keinen Fall tun darf, und zwar gerade, weil es einen ‚In Schwierigkeiten bringen‘ kann. Die Rebellion und ihre Unterdrückung scheint also in denselben Begriffen verfangen, ein Phänomen, das zu Adams erster kritischen Einsicht in die subtile List der Macht führt: das herrschende Gesetz droht, Adam ‚Ärger zu machen‘, ja ihn ‚in Schwierigkeiten zu bringen‘, nur damit er keine Schwierigkeiten macht, keine Unruhe stiftet. Daraus schliesst Adam, daß Schwierigkeiten unvermeidlich sind und daß die Aufgabe ist, herauszufinden, wie man am besten mit ihnen umgeht, welches der beste Weg ist, in Schwierigkeiten zu sein.
Tag 90
Ich kann die Schnecken Adam und Robinson nicht auseinanderhalten. Ich habe sie daher links und rechts beschriftet.
Kleine neongelbe Sticker.
Schnecken sind Zwitter.
Auf der linken Seite des Schneckenhaus steht ‚männlich‘, auf der rechten ‚weiblich‘.
Solange ich die Schnecken nicht anschaue, sind sie gleichzeitig männlich und weiblich.
Ich bin keine Schnecke, ich beobachte Schnecken. Ihr Geschlecht ändert sich je nach Betrachtungsweise.
Tag 70
Reglos, mit stumpfen Augen, scheint Adam die Laute, die ich ihm einzuprägen versuche, nicht aufzunehmen. Obwohl nur ein paar Schritte von mir entfernt, scheint er weit weg zu sein. Im Sand ausgestreckt wie eine kleine verwitterte Sphinx, lässt er die Himmel über sich kreisen, von früh bis abend.
Fast denke ich, Adam und ich gehören verschiedenen Universen an; ich bin fast überzeugt, unsere Wahrnehmungen seien zwar die gleichen, doch füge Adam sie anders zusammen und bilde aus ihnen andere Gegenstände; fast denke ich, es gibt für ihn keine Gegenstände, sondern nur ein schwindelerregendes und fortwährendes Zusammenspiel blitzschneller Eindrücke. Ich denke an eine Welt ohne Gedächtnis, ohne Zeit; ich erwäge die Möglichkeit einer Sprache, die Substantive nicht kennt, einer Sprache aus unpersönlichen Verben oder nicht deklinierbaren Beiwörtern. Eva sitzt zusammen mit einer radioaktiven Substanz in einer Box. Die Substanz zerfällt zufällig mit 50%iger Wahrscheinlichkeit. Tritt der Zerfall ein, wird mit einem Hämmerchen ein Gefäß mit Giftgas zerschlagen, das sich ebenfalls in der Box befindet. Eva stirbt.
Solange ich Eva nicht beobachte, kann ich nicht sagen, ob er noch lebt oder bereits tot ist.
Die radioaktive Substanz befindet sich in einem Überlagerungszustand aus zerfallen und nicht-zerfallen. Auch Eva befindet sich in einem Überlagerungszustand aus gestorben und nicht-gestorben.
Das gesamte Hirn ist betroffen. Plötzliche Versteifung des ganzen Körpers, Verdrehen der Augen, wiederholte, rhythmische Krämpfe in den Extremitäten. Eva ist ein Lebewesen; Lebewesen sind entweder tot oder lebendig, hieraus folgt mit Notwendigkeit, daß ein Experiment wie das beschriebene Unruhe verbreitet und die Wissenschaft in Schwierigkeiten bringt oder zumindest in einen Zustand, der den Bereich der Wissenschaft verlässt und in den Bereich des Glaubens eintritt.
Tag 102
Die Sinnlosigkeit des Forschens wäre kein Grund, damit aufzuhören, denn sinnlos ist alles. Würde ich ein normales Leben führen mit einem normalen Beruf, fände ich das nicht weniger sinnlos. Einen Sinn erwarte ich nicht. Das Forschen ist gelegentlich ein Rettungsboot im Meer der Sinnlosigkeit. Ich kann gut leben ohne zu forschen. Sehr gut sogar. Es gibt Tage der Melancholie, aber die können auch schön sein. Ich müßte es machen wie ein Schriftsteller, der sich jeden Morgen um acht an den Schreibtisch setzt, auch wenn er keine Lust und keine Einfälle hat. Dazu fehlt mir die Disziplin. Ich halte Arbeit für einen Fluch im biblischen Sinne: im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen. Ich bin nach den Gesetzen der Marktwirtschaft ein Verlustgeschäft.
Tag 346
Der neue Turm ist schon ziemlich hoch. Ich will ihn mit einem fragilen Geflecht aus Reisig krönen, was sehr hübsch aussehen wird. Es erinnert mich an die japanischen Mönche, die, unangepaßt und von der Gesellschaft ausgestoßen, bettelnd und Flöte spielend, in selbstgewählter Verbannung lebend, durch die Lande zu ziehen.
Hier auf der Insel gab es den Brauch, an einem bestimmten Tag im Jahr Reiser als spitze Hüte, Masken oder sogar als Kleidung zu tragen und dabei Flöte zu spielen.
Das Ritual wird nicht hinterfragt. Es ist unantastbar und unendlich wiederholbar. Bis in alle Ewigkeit.
Ich baue seit zwei Wochen an einem blöden Bett. Am sinnvollsten ist natürlich ein Futon. Materialien sind vorhanden: Holz, Kokosmatten und wenn ich die toten Schafe sammle, die in Schluchten herumliegen oder angeschwemmt werden, könnte ich irgendwann genug Fell zusammenhaben, um eine Decke zu weben. Mein Turmbau war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Der Professor behauptete damals zwar, das ehrgeizige Projekt sei an Geldmangel gescheitert, tatsächlich war das Projekt aber schon von vorneherein als Unmöglichkeit angelegt, allerdings als eine, die so laut schreit und so schön ist, daß man nie aufhören möchte, sie verwirklichen zu wollen. Das ist die Dynamik der Revolution, daß sie nie wirklich werde. Sobald eine Revolution stattgefunden hat, ist sie natürlich niemals eine gewesen, sie wird als Geschichte abgelegt und fängt an zu schlafen wie Dornröschen, die ebenfalls im Schlaf besonders gut aussieht. Der Turm sollte von allen Stahlarbeitern der Welt gemeinsam gebaut werden. Wer oder was sind nun Stahlarbeiter? Gehören Künstler wie Richard Serra oder Uecker dazu oder auch Tinguely und Beuys, der mit allen Künstlern der Welt, also mit aller Welt, weil alle Künstler, der jedenfalls Rost mochte, gehören diese Menschen dazu oder wird denen von den Stahlarbeitern der Kopf abguillotiniert eher, wenn sie mitmachen möchten beim Turmbau? Und was ist überhaupt Kunst und was ein Künstler? Letztendlich, ganz einfach, mochten jedenfalls die Stahlarbeiter in Nordkorea die in Südkorea nicht und die in der DDR mochten die in Westberlin nicht und die woanders sind mochten die, die am Zug sind nicht und das verhinderte den weltweit gemeinsamen Bau schonmal.
Die Schnecken jedenfalls wollen den jetzigen Turm bewohnbar haben, kindergerecht und vor allem soll er höher sein.
Ich verstehe mich als Forscher, deren Vokabular und Grammatik bald niemand mehr kennt, ich bin kein Stahlarbeiter, jedoch zur See gefahren.
Der Forscher ist das Vorzeigesubjekt in in neoliberalen Verhältnissen. Forscher sind aufgefordert, sehr flexibel zu arbeiten. Sie sind bereit, vollkommene Selbstausbeutung zu betreiben, und die wird mit Erfüllung markiert. Dann wird gesagt, das hat sich gelohnt. Und die hundert anderen, die es nie schaffen, die interessieren niemanden. Ich erinnere mich, daß ich auf Einladung des Medienprofessors einmal einen Vortrag über meinen Turm hielt.
‚Das ehrgeizige Architekturprojekt wurde aus Kostengründen nicht gebaut, gilt aber bis heute als Architekturikone.’
Er lud mich zum danach für einige Tage in sein prunkvolles Sommerhaus mit riesigem Garten ein. Es waren noch andere Gäste anwesend, einige Designer, einige Verwandte des Professors und natürlich seine Frau, die sehr schön und auch sehr freundlich zu mir war.
Wir saßen nach dem Essen im Garten, ein Designer erzählte mir, mein Turmmodell habe ihn zum Design eines Sofas inspiriert- das spiralförmige Polstermöbel sei für die Raummitte gedacht. Ein Totem für das Wohnzimmer und für institutionelle Räume, das neue Sitzmöglichkeiten eröffnet. Die Basis aus Schichtholz sei mit Metallfüßen versehen. Die Spirale, ein Meisterwerk der Technik, bestünde aus formgepresstem und dann geformtem Stahl. Die Polsterung aus PUR-Schaum sei elastisch und atmungsaktiv. Der Samtbezug könne auf Wunsch durch verschiedene Stoff- und Lederbezüge seiner Kollektion ersetzt werden-, danach sprach er von der ‚spezifischen Schönheit‘ der Reklametafeln und Neonlichter in Städten wie New York. Er sagte, man solle sie als Pop Art betrachten. Ich sprach von der Unmenschlichkeit von Flughäfen.
Daß diese Leute Lösegeld verlangten war allen klar.
Tag 80
Seit vier Tagen habe ich nichts gegessen. Adam redet ununterbrochen auf mich ein, in einer Sprache, die ich kaum noch verstehe. Dabei habe ich sie ihm selbst beigebracht.
Tag 560
Dreissig Jahre ist die Sprache fort.
top of page