Titel:
YOU CAN FIND ME IN THE LEXICON, THE LEXICON


Kontext:

Auftragsarbeit/Beitrag zu:

you can find me in the lexicon,
in the lexicon – Archivbegehungen

Imaginary Archive 1&2 , Sammlung Migros Museum für Gegenwartskunst Zürich,
DESO Radiomuseum, Phonogrammarchiv, Archiv für Zeitgeschichte
05./06./07. Juni 2009/Zürich
In «you can find me in the lexicon, in the lexicon» wird Queerness in ausgewählten Archiven
behauptet, platziert und ausgetestet. Fiktionen werden eingeflochten, Referenzen
hergestellt und kollektiv Performatives durchgespielt. So dient beispielsweise das Archiv als
Kulisse, um öffentlich Zeugnisse neu abzulegen; eine temporäre Geschichtsumschreibung.
Das Dokumentarische, das lange als Bild der Welt gegolten hat, wird hier zur Welt als Bild. Vom 5. - 7.Juni sollen Führungen, Lesungen, Performances in bestehende Archive, die vordergründig keinen direkten Bezug zu Queerness aufweisen intervenieren. In einer Wechselwirkung beeinflussen sich das Archiv und die darin performten Arbeiten, so dass nochmals andere Zusammenhänge hervorgehoben und bestehende Narrationslinien weitergeschrieben werden.
So werden z.B. in einer performativen Führung der Künstlerin Simone Schardt imaginäre, queere und fiktive Themenfelder in die Sammlung des Migros Museums eingebracht und vergegenwärtigt. Im Vorfeld wurden dafuer diverse Kuenstlerinnen und TheoretikerInnen eingeladen in einem Textbeitrag Werke, die sich in der Sammlung befinden bzw. befinden könnten zu beschreiben. 


Beitrag Itty Minchesta:

Ich möchte ein Bild beschreiben, welches sich im Kulturbüro 1 in Zürich befindet.
1 Das Kulturbüro unterstützt Kulturschaffende, indem es ihnen eine arbeitserleichternde Infrastruktur wie z.B. die Ausleihe von technischem Equipment, die Möglichkeiten zum Kopieren, Faxen, eine kleine Bücherei etc. zur Verfügung stellt. Der Ort, bis vor fünf Jahren selbstorganisiert und finanziell unabhängig, wird heute über das MIGROS 2 Kulturprozent 3 finanziert.
2 MIGROS ist eine 1925 von Gottlieb Duttweiler gegründete und ursprünglich in seinem Besitz gewesene Schweizer Einzelhandelskette, die 1941 von ihrem Gründer in eine Genossenschaft umgewandelt wurde. Jede Bewohnerin, jeder Bewohner der Schweiz und des angrenzenden Auslands hat das Recht, kostenfrei Genossenschafter der MIGROS und damit Miteigentümer zu werden. Duttweiler, überzeugter Humanist mit basisdemokratischen, vielleicht sogar sozialistischen Ideen und Tendenzen, die er innnerhalb und durch die Genossenschaft MIGROS umsetzte, wollte damit die demokratische Kontrolle des grössten Schweizer Detailhändlers erreichen.
3 Das Kulturprozent ist in den Statuten der Migros fest verankert und basiert auf einer Idee von Duttweiler: ein Prozent des Jahresgewinnes der MIGROS solle für Kultur ausgegeben werden.
Das Bild ist etwa drei mal zwei Meter groß und nimmt eine ganze Wand des Kulturbüros ein. Aufgrund seiner Größe und des Malstils, realistisch bis naiv, erinnert es an ein Mural 4.
4 ein meist politisch motiviertes Wandgemälde im öffentlichen, vorzugsweise politisch umkämpften Raum.
Die vorherrschenden Farbtöne des in Acryl auf drei einzelne Holzplatten gemalten Bildes sind blau, grau, grün und rosa.
Bei gutem Wetter, rosa Wolken und einem gelben Sonnenstreifen am Horizont über einer grauen Betonmauer, steht rechts im Bildvordergrund ein Mann mittleren Alters in blauen Shorts und Gesundheitssandalen auf einem fast leeren Parkplatz. Nur vor der Mauer wachsen einige kugelförmig beschnittene, symmetrisch in Reihung gepflanzte, künstlich grün erscheinende Bäumchen. Der mittlere von sieben Bäumen ist offensichtlich abgestorben, verdorrte Äste ragen in die Höhe. Die Bäume sind im Bildvordergrund gespiegelt, es ist jedoch nur links angeschnitten ein Baum zu sehen. Der Parkplatz gehört höchstwahrscheinlich, betrachtet man das Gebäude im Hintergrund, zu einem Supermarkt. Ein standarisiertes, einstöckiges, langgezogenes Backsteingebäude, funktional, mit Wänden wie Mauern. Davor zwei leere, ineinander verkeilte Einkaufswagen. Das Supermarktgebäude bildet die Begrenzung des Bildes nach links.
Der Mann liest mit leicht gebückter Haltung in einem Buch. Von seiner rechten Hand, sowie an seinem linken Arm, in dessen Hand er das Buch hält, baumeln Jutetaschen, ebenso weiß und unbedruckt wie sein T-Shirt. Den Kopf leicht nach links unten in Richtung des Buches geneigt, sieht der Mann, der generell zufrieden und selbstsicher wirkt, ein Rentner, der es zu etwas gebracht hat, beim Lesen konzentriert und leicht skeptisch aus. Und er wirkt intelligent, trotz einer leichten Feistigkeit und der unvorteilhaften Freizeitkleidung.
Der Mann mit Namen Gottfried Duttweiler 2,5 steht nicht wirklich auf dem Parkplatz, sondern läuft viel eher, sehr, sehr langsam und abgelenkt - er liest ja schließlich. Sein Einkauf wie auch sein Nachhauseweg interessieren ihn nicht sonderlich, er hat letzteren schon zu oft routiniert zurückgelegt. Das Buch, in dem Duttweiler so aufmerksam liest, trägt den Titel "Nach uns die Zukunft. Von der positiven Subversion", geschrieben von Hans A. Pestalozzi.5
5 Pestalozzi war persönlicher Sekretär von MIGROS-Gründer Duttweiler und teilte dessen Überzeugungen und Ideen. Er war ab 1962 Vizedirektor der MIGROS, ab 1966 Vizedirektor des Gottlieb Duttweiler Instituts und wurde, da er noch radikal sozialistischer als Duttweiler war, direkt nach dessen Tod im Jahre 1979 von der neuen, marktwirtschaftlich orientierten Führung entlassen.
Pestalozzi reagierte darauf mit einem politischen Feldzug gegen die MIGROS, der Demokratisierungsbewegung M-Frühling. Er bezeichnete sich selbst als 'autonomen Agitator' und avancierte zum populärwissenschaftlichen, linken, gesellschaftskritischen Bestsellerautor, was ihm nebenbei viel Geld einbrachte. 1984 zog er sich auf einen Bauernhof zurück und beging 2004 fünfundsiebzigjährig Selbstmord.
Der MIGROS-Vorstand höhlte derweil die Ideen Duttweilers immer mehr aus. Ein illustrierendes Beispiel: Duttweiler hatte Zeit seines Lebens ein Verkaufsverbot von Tabak und Alkohol in MIGROS-Läden durchgesetzt. Nach seinem Tod wurden oft direkt neben MIGROS Supermärkten Filialien der Kette Denner 6 eröffnet, in denen Tabak und Alkohol verkauft wird.

6 Denner wurde von der Führung der MIGROS gegründet und ist somit eine Tochtergesellschaft der MIGROS.
Das Bild wirkt nicht unbedingt deprimierend, jedoch sediert, wenn auch nicht sedierend. Alle Dinge, alle Menschen darauf, wirken beziehungslos und isoliert, leicht hospitalistisch.
Ich schreibe Menschen im Plural, denn ich habe bis jetzt eine Person im Bild unterschlagen. Duttweiler befindet sich nicht allein auf dem Parkplatz. Im Hintergrund, nach links von ihm abgewendet, fast vor der Betonmauer, ist eine weitere Gestalt zu sehen. Längere braune Haare und ein hellrosa Strickpullover lassen die Figur eher weiblich erscheinen. Der Einfachheit halber behaupte ich also, sie sei eine Frau. Sie steht gebückt, mit hängendem Kopf und Armen. Eventuell schlenkert sie mit den Armen. Die Bewegung ähnelt einer Lockerungsübung, jedoch ohne Anspannung und Energie. Im Gegenteil: alles an der Frau wirkt erschöpft - sie lässt sich gehen. Dieser Eindruck wird durch eine Spur von Bananenschalen verstärkt, die sich gerade hinter ihr herzieht. Die Frau legt offensichtlich die Bananenschalen aus. Sie spielt ein Spiel - Himmel und Hölle, sie versucht, nicht in die Zwischenräume der Gehwegplatten zu treten, sie ist auf dem Nachhauseweg von der Schule. Den Weg kennt sie gut. Sie macht sich keine Illusionen mehr darüber. Dennoch wird sie, wenn sie so weitermacht, einfach so weiterläuft, gegen die Backsteinmauer des Supermarktes laufen, so als stelle diese kein Hindernis dar. Der Weg des Rebellen7.
7 'Herrgott, was gehen mich aber die Gesetze der Natur und der Arithmetik an, wenn mir aus irgendeinem Grunde diese Gesetze und das Zweimal-Zwei-Ist-Vier nicht gefallen? Versteht sich, ich werde solch eine Mauer nicht mit dem Kopf einrennen, wenn ich tatsächlich nicht die Kraft dazu habe, aber ich werde mich mit ihr doch nicht aussöhnen, bloß weil es eine Mauer ist und meine Kraft nicht ausreicht.'
Trotz aller Erschöpfung ist die Frau offensichtlich beharrlich in ihrem Tun. Sie hat aufgehört zu hinterfragen, was sie da tut, sie tut es, weil sie es angefangen hat, sie kümmert sich nicht darum, ob und daß ihr Tun unpassend ist, unnütz, ein Anachronismus. Die Frau heißt Ursula Brunner.8
8 Ursprünglich Pfarrerin, ist Ursula Brunner als ‚Bananenfrau’ bekannt geworden, zusammen mit einigen anderen Frauen ist sie eine Pionierin des Fairtrade. Ihre erste politische Aktion 1973 bezog sich direkt auf eine Kampagne mit billigen Bananen von MIGROS. Alle Bananenfrauen waren MIGROS-Genossenschaftsmitglieder und versuchten diese zusammen mit Pestalozzi zu erneuern. Frau Brunner scheiterte auf lange Sicht - weniger wie noch zu Beginn ihres Kampfes an der MIGROS, mehr jedoch an den verschlungenen Pfaden des sich immer selbst erneuernden Kapitalismus und seinen Machtzusammenhängen, der es ermöglicht, das heute in jeder Supermarktkette sogenannte 'Fair Trade Bananen' angeboten werden. 'Das sei nicht das, was sie gewollt habe.’
Das Bild befindet sich im Kulturbüro in Zürich. Es ist 2007 auf Einladung des Kulturbüros gegen Bezahlung von 300SF vom Hamburger Künstler Paul Dose9 gemalt worden.
9 Paul Dose ist Teil der AtomicTitCorporation10 deren anderes ständiges Mitglied Itty Minchesta diesen Text geschrieben hat.
10 Die AtomicTitCorporation, 1999 gegründet, ist ein interdisziplinäres, kontextbezogen arbeitendes, daher multimediales, künstlerisches Forschungsprojekt.
www.atombusentransporte.de